Rupi plant, für die nächsten 10 Tage Chartergäste an Bord zu nehmen. Da kommt eine Anzeige auf der Reiseplattform wie gerufen für mich: Michael aus dem Sauerland verbringt seinen Winterurlaub auf La Palma, der westlichsten der Kanareninseln, die er wandernd erkunden möchte. Ich war 2018 bereits auf der „Isla Bonita“ oder auch „Isla Verde“ – beide Namen trägt La Palma mit seiner imposanten Bergwelt und seinen schwarzen Lavasand-Stränden zurecht.

Nach einem kurzen Mailverkehr und einem Telefonat vereinbaren wir, uns direkt am Flughafen von Santa Cruz, dem an der Ostküste gelegenen Hauptort von La Palma zu treffen.

Diese Reiseplattformen sind absolut genial – wenn man bereit ist, sich innerhalb kurzer Zeit auf einen anderen Menschen einzulassen, die gegenseitige Sympathie passt und gewisse Eckpunkte (Kostenteilung 50:50, getrennte Schlafzimmer oder auch nicht – man muss das aber vor der Reise vereinbaren, Gestaltung der Urlaubstage, ganz wichtig: man muss nicht alles gemeinsam unternehmen und keiner darf beleidigt sein, wenn einer einmal alleine losziehen möchte und beiderseitige Kompromissbereitschaft) geklärt sind, so steht einem angenehmen Urlaub zu zweit nichts mehr im Weg.

Auch wenn ich nicht auf Reisepartnersuche bin, so schmökere ich ganz gerne in den Inseraten, weil einem da immer wieder Sachen unterkommen, die einen zum Schmunzeln oder sogar Lachen bringen.

Da wären einmal die sogenannten „Ladies free“-Anzeigen. Sehr oft aufgegeben von Herren in meinem Alter – wenn man sich die eingestellten Fotos anschaut, sieht man, dass das Leben doch sehr tiefe Spuren hinterlassen hat, dem Bauchumfang nach zu schließen haben Bier und Schweinsbraten immer sehr gemundet. Nachdem die zukünftige Reisepartnerin ja eingeladen ist, erwarten diese Herren natürlich auch entsprechende Gegenleistungen: Wunschalter 18 bis 25 und – eh klar – hübsches Aussehen und gute Figur. Gebucht wurde über den Diskonter ein Doppelzimmer (kostet nicht viel mehr als ein Einzelzimmer) und der Billigflug ins Urlaubsparadies ist auch noch drin. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses Inserat irgend eine 25jährige hinter dem Ofen hervorlockt, es wird dann eher so sein, dass diese Herren von einschlägigen Damen angeschrieben werden, die ihnen ein All-In-Angebot unterbreiten (und das ganze dann definitiv nicht zum Diskontpreis).

Es gibt da aber auch einen 35-jährigen, der den Spieß umgedreht hat. Die Frauen sind ja emanzipiert und viele verfügen über ein gutes Einkommen. Er hingegen hat grad eine teure Scheidung hinter sich und kann sich keinen Urlaub leisten. Daher sucht er eine solvente, attraktive Dame bis maximal 35 (er sucht doch keine Sugar-Mummy!), die ihn zu einer mindestens 2-wöchigen Luxusreise einlädt. Seychellen wären super, aber ein exklusives Resort in SO-Asien oder in der Karibik tun’s natürlich auch. Dazu ein bisschen Taschengeld und ein nettes Geschenk, z.B. das neueste iPhone oder eine Rolex.

Ja, das ist so eine Sache mit den Erwartungen. Ein 65-jähriger sucht eine weibliche Reisebegleitung für eine mehrjährige Weltreise mit dem Wohnmobil – er ist in Rente und hat viel Zeit. Dem Foto nach zu urteilen nicht unsympathisch (durchschnittliches Aussehen), ausserdem gebildet, belesen, viel gereist – also sicher nicht uninteressant. Und laut eigenen Angaben auch topfit und sehr sportlich. Wunschalter der Dame, die ihn begleiten soll: 35 bis maximal 50. Und dazu auch gleich die Begründung: „Weil ich in meinem Leben immer mit jüngeren Leuten zu tun hatte“ – Ich denk mir: was ist das für eine Begründung? Und bedenkt er eigentlich, dass diese jüngeren Damen ja noch arbeiten müssen? Wie soll das dann gehen mit einer mehrjährigen Reise – es sei denn sie ist Digital-Nomadin? Kurz überlege ich, ihn anzuschreiben (mit einem link zu meiner homepage) und dem Bedauern, dass ich aufgrund meines fortgeschrittenen Alters (bin aber trotzdem jünger als er) ja leider nicht in Frage komme und zum Schluss mit „Mumie Monika“ unterschreibe (ich kann wirklich garstig sein) – lass es dann aber bleiben. Offensichtlich hat er die richtige aber bis jetzt nicht gefunden, weil in der neuesten Anzeige gibt er es schon etwas billiger: die Damen dürfen jetzt tatsächlich auch 60 sein. Na, dann viel Glück!

Jetzt aber zurück zu La Palma. Michael, der bereits seit ein paar Tagen auf der Insel ist, holt mich mit dem Leihwagen vom Flughafen ab und wir beziehen unsere Ferienwohnung in Puerto Naos an der Westküste. Gleich ums Eck gibt es einen kleinen Spar-Markt, wo wir uns mit Lebensmitteln für das Frühstück und die geplanten Wandertouren eindecken.

Vor ca. 3 Jahren war hier der letzte große Vulkanausbruch, der 3 Monate angedauert hat – nicht zu übersehen der neue Berg (Tajogaite) und der breite Lavastrom, der sich ins Meer ergossen hat. Dabei wurden 1500 Gebäude zerstört – von einigen sieht man nur noch das Dach aus der erstarrten Lavamasse rauslugen.

Vulkane und deren Landschaften (Caldera) bilden auch den Mittelpunkt unserer Bergtouren, die dann regelmäßig auf dem Programm stehen. Imposante Krater, kahle Mondlandschaften, wo vereinzelt wieder Kiefern anfangen zu wachsen und gewaltige Schluchten erzeugen viele WOW -Momente. Und wir machen nicht wenige Höhenmeter – das ganze in flottem Tempo. Ich bin auch nicht grad die Langsamste, muss aber schauen, dass ich mit Michael Schritt halte. Er war früher Landesmeister im Fünfkampf und ist mit seinen 60 Jahren noch immer topfit.

Am Abend geht es dann ab ins Restaurant, welches direkt am Meer liegt. Auch nach Sonnenuntergang um ca. 18:30 ist es noch immer angenehm im Freien zu sitzen, obwohl eine leichte Jacke nicht schadet.

Ich probier heute einmal Muräne (habe ich noch nie gegessen) – die haben sie hier auf der Karte, dazu papas arrugadas (Runzelkartoffeln) mit mojo rojo (Chilisauce) und Salat. Michael bestellt nach dem Motto: „Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht“ – für ihn gibts einen Burger mit Pommes. „Igitt, was ist denn das“ – entsetzter Blick von Michael, als er den Kopf der Muräne auf meinem Teller sieht. Zugegeben, das ganze schaut wirklich ein bisschen spooky aus: ziemlich grimmiger Blick, das Maul leicht geöffnet mit vielen spitzen Zähnchen. (Foto siehe weiter unten) „Magst kosten? – die Backerl schmecken sicher besonders gut.“ Michael ist mutig und die Backerl lässt er sich tatsächlich schmecken. Die restliche Muräne ist auch nicht schlecht – ein bisschen viel Gräten vielleicht, sonst aber nicht zu verachten.

Als passenden Wein wähle ich einen Malvasia von La Palma – die Traube wächst hier auf der Insel auf Vulkanböden (bei einer der Wanderungen im Süden kommen wir bei den Weingärten vorbei) und ergibt einen vorzüglichen Tropfen. Was für ein Genuss und das vor der imposanten Kulisse mit grossen Wellen, die mit Getöse auf den schwarzen Strand brettern.

Der nächste Tag ist ein Faulenzertag für mich, auch weil ich eine unangenehme, schmerzende Blase auf meinem kleinen Zeh habe. Sie ist mittlerweile offen, nässt und blutet leicht. Michael macht die heutige Bergtour alleine und verspricht, mir aus einer Apotheke Blasenpflaster mitzubringen, damit ich am nächsten Tag wieder fit bin für den nächsten Berg.

Am Nachmittag gehe ich an den Strand, um mir in der Bar einen Barraquito zu gönnen, anschliessend setze ich mich mit einem Buch auf eine schattige Bank an der Promenade, die ca. 1 m über dem Strand liegt. Es ist angenehm, hier zu lesen und zwischendurch immer wieder einen Blick auf die Strandbesucher, die Wellen und den Horizont zu werfen. Schon seit 2 Tagen weht die rote Flagge – Baden im Meer ist verboten – eine Gruppe socorristas (Rettungsschwimmer) passt auf, dass niemand das Verbot missachtet. Der Atlantik zeigt sich von seiner rauen, gefährlichen Seite – die Wellen, die am Strand ankommen sind ca. 4m hoch.

Dann – ich bin in mein Buch vertieft – ein aufgeregter Schrei eines Mannes neben mir: er ruft den socorristas auf spanisch zu, dass eine Person im Meer treibt und zeigt mit seiner Hand auf die betreffende Stelle. Ich stehe auf, um besser sehen zu können, kann in den aufgepeitschten Fluten aber nichts erkennen. 2 socorristas, junge Männer, schnappen sich je eine Rettungsboje, sprinten zum Wasser und innerhalb von ein paar Sekunden sind sie in den Wellen verschwunden. Von Zeit zu Zeit sieht man einen Kopf zwischen den Schaumkronen auftauchen, dann den zweiten – man sieht, dass sie ordentlich zu kämpfen haben, um wieder ans Ufer zu gelangen.

Gebannte und entsetzte Blicke der Strandbesucher und auch die Spaziergänger auf der Promenade bleiben stehen und verfolgen das dramatische Geschehen.

Im nächsten Moment ein gellender, hysterischer Schrei einer Frau Mitte 30, die auf einem der Liegestühle gleich unter der Promenade liegt. „Mischa, Mischa“ rufend springt sie auf und rennt Richtung Wasser – dort, wo die Rettungsschwimmer gerade versuchen, wieder festen Boden unter den Füssen zu gewinnen. „Um Gottes Willen – ist Mischa ihr Kind?“ ist mein 1. Gedanke. „Ist sie gerade drauf gekommen, dass ihr Kind nicht da ist?“

Dann sieht man aber, dass die socorristas den leblosen Körper eines erwachsenen Mannes in den schwarzen Sand legen und umgehend mit der Herzmassage beginnen. Die Frau, lange blonde Haare, mit Hot Pants und weißem T-Shirt bekleidet will mit lauten „Mischa, Mischa“ – Rufen zu ihrem Partner – ein paar Strandbesucher halten sie zurück und versuchen, sie zu beruhigen.

Schon bald kommt ein Rettungsfahrzeug mit Blaulicht und Folgetonhorn auf die Strandpromenade – 3 Sanitäter/Notärzte unterstützen nun die socorristas bei den Wiederbelebungsmassnahmen. Da mittlerweile die Flut eingesetzt hat, muss Mischa ca. alle 10 Minuten weiter Richtung Promenade umgebettet werden und mit ihm bewegt sich auch der gesamte Rettungstross, der inzwischen aus ca. 10 Personen besteht. 4 uniformierte Polizisten sind auch da – mich wundert, dass kein Sichtschutz errichtet wird.

Die Frau von Mischa ist komplett fertig – zeitweise läuft sie wie ein Tier im Käfig im Kreis verzweifelt „Mischa, Mischa“ rufend, dann sitzt sie apathisch im Sand und stiert vor sich hin. Solange die Einsatzkräfte nicht aufgegeben haben, besteht Hoffnung, dass das ganze doch noch gut ausgeht. Es taucht dann auch noch ein junger, schlaksiger Mann auf, der ebenfalls einen Zusammenbruch erleidet. Beim Anblick von Mischa, der mittlerweile in eine gold glänzende Rettungsdecke gehüllt ist, beginnt er laut zu schluchzen und es beutelt ihn am ganzen Körper.

Unter den Strandbesuchern werden Mutmaßungen angestellt – wie konnte das passieren? Bei diesen hohen Wellen geht doch keiner ins Wasser. Ein Pärchen berichtet, dass es am Vortag bei einem Strandspaziergang fast hinausgespült worden ist. Aber sie waren zu zweit und der Mann konnte die Frau im letzten Moment aus dem Wasser ziehen. Die hohen Wellen und die starke Strömung werden leider unterschätzt.

Und so war es vielleicht auch bei Mischa. Er verbringt mit seiner Frau und seinem 20-jährigen Sohn (der aus einer früheren Beziehung stammt) einen schönen Nachmittag am Strand. Sie haben heute einen Faulenzer-Strandtag eingelegt, nachdem sie in den letzten Tagen immer sportlich in den Bergen unterwegs waren und auch morgen ist wieder eine anstrengende Bergtour geplant. Vielleicht überlegen sie gerade, in welchem Restaurant sie heute zu Abend essen (diese Tapas Bar mit den Arepas wollten sie schon die ganze Zeit mal ausprobieren), da meint Mischa zu seiner Frau: Du, ich geh noch schnell auf einen Kaffee in die Strandbar. Bin gleich wieder zurück. Okay, meint seine Frau und vertieft sich wieder in ihr Buch. Nachdem Mischa den Kaffee getrunken hat, beschließt er noch einen kleinen Strandspaziergang zu machen – er hat sich heute viel zu wenig bewegt. Strandspaziergang: das ist normalerweise ganz harmlos und steht für Urlaub pur. Miniwellen, die die Zehen kitzeln – wenns hoch geht werden vielleicht einmal die Wadl‘n nass. In Gedanken versunken geht er am Wasser entlang und dann kommt die Welle, die ihn mit raus nimmt aufs Meer. So oder so ähnlich könnte es gewesen sein.

Es ist mittlerweile 18:00 – vor 1 Stunde wurde Mischa aus dem Wasser gezogen und in diesen 60 Minuten haben die Einsatzkräfte ihr bestes gegeben, ihn ins Leben zurückzuholen. Leider vergeblich. Sie beginnen, ihre Sachen zusammenzupacken. Die Socorristas reinigen ihre Bojen und das restliche equipment und verstauen alles in einem Lagerraum neben der Strandbar. Die Sanitäter und der Notarzt packen ebenfalls alles zusammen und verstauen die Sachen im Rettungsauto. Ein Sanitäter holt ein weißes Tuch aus dem Rettungswagen und deckt damit den leblosen Körper von Mischa zu. (Ich frage mich, wieviele weiße Tücher die Einsatzkräfte immer dabei haben. Mit wie vielen Leichen rechnen sie pro Tag?)

Die Sonne verschwindet langsam im Meer – mich fröstelt.

Am schwarzen Sand liegt noch immer die mit weißem Tuch zugedeckte Leiche von Mischa. Die goldene Rettungsdecke lugt hervor. 2 Polizisten stehen daneben. Der Liegestuhl- und Sonnenschirm-Verleiher sammelt die Liegen und Schirme ein. Die Liegen werden neben der Strandbar gestapelt, daneben die Schirme hingelegt. Die meisten Strandbesucher sind schon in ihren Ferienwohnungen – sie machen sich fertig fürs Abendessen.

Die Sonne ist jetzt ganz weg – Dunkelheit senkt sich über die Szenerie. Da kommt noch einmal die Frau von Mischa, sie kniet sich neben ihn in den schwarzen Sand, zieht das weiße Tuch zurück, sodass sein Kopf sichtbar wird, streichelt ihm über die Haare und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann deckt sie ihn wieder zu. So herzzerreißend und erschütternd – so zärtlich und intim.

Vergleiche mit der griechischen Mythologie drängen sich auf: Poseidon hat seinem Bruder Hades zu einem Neuzugang in dessen Totenreich verholfen. Mischa hat bereits den Styx überquert, vorbei an Zerberus und nichts kann ihn zur Umkehr bewegen. Nicht die lauten, verzweifelten „Mischa, Mischa“-Schreie seiner Frau, nicht das unüberhörbare Schluchzen seines Sohnes.

Überhaupt wirkt das alles so inszeniert: Die eben im Meer versunkene Sonne, der Abendhimmel, die lauten, ungestümen Wellen, der schwarze Strand mit dem leblosen Körper, mit dem weißen Tuch darüber. Dazu das Publikum (viele haben Tränen in den Augen): in der Strandbar, das sind die Logenplätze. Die Plätze auf den Strandliegen entsprechen dem Parkett und auf der Promenade, wo auch ich stehe, das ist der 1. Rang.

Die Vorstellung hat genau 90 Minuten gedauert, jetzt fällt gleich der Vorhang. Dann werden die grandiosen Schauspieler noch einmal vor den Vorhang treten und sich den verdienten Applaus abholen. In der Mitte verbeugt sich Mischa in seiner schwarz-grünen Badehose, die goldglänzende Rettungsdecke um die Schultern sorgt dafür, dass ihm nicht kalt wird – daneben seine Frau und sein Sohn und anschließend die socorristas, Notärzte, Sanitäter und Polizeibeamten.

Es ist kein Theater – es ist Realität.

RIP Mischa, er wurde 49 Jahre alt.

Heute gibts Muräne

Kraterlandschaft auf La Palma

Blick aufs Nebelmeer

Morgenstimmung in der Cumbrecita

Ein bisschen grün in der Vulkanlandschaft

So siehts aus nach dem letzten Vulkanausbruch

Mit Michael am Strand von Puerto Naos – dazu ein ausgezeichneter Wein